Stanislaus Bender wird am 23. Februar 1882 in Łódź geboren, wo seine Eltern ein Gasthaus betreiben. Er ist das jüngste von sechs Kindern. Wie bereits sein drei Jahre älterer Bruder wird Stanislaus nicht mehr in den Cheder, die traditionelle jüdisch-religiöse Grundschule, sondern in eine allgemeine, russisch-polnische Schule geschickt.
Als jüngstes der sechs Kinder – 3 Söhne und drei Töchter – war er das Hätschelkind der Familie. Sein Vater war ein unternehmender Kaufmann, der in Lodz ein Hotel für die Landbevölkerung betrieb und sich auch nicht scheute, in Kaftan und Käppi geschäftlich nach Amerika zu reisen, was damals mehr bedeutete als heute. Die Mutter wurde auf Grund eines Ohrenleidens frühzeitig völlig gehörlos und stand daher innerhalb der Familie sehr im Hintergrund. Mein Vater wurde im Grunde von seiner ältesten Schwester aufgezogen.
Die Familie, vor allem die Mutter, war religiös, die Riten wurden gewissenhaft, wenn auch ohne Übertreibung eingehalten. Doch wurden die beiden jüngsten Söhne, also mein Vater und ein 3 Jahre älterer Bruder bereits nicht mehr in den Cheder, sondern auf die allgemeine, russisch-polnische Realschule geschickt.
Bald jedoch entwickelte sich deutlich das Interesse meines Vaters an allem, was mit Zeichnen und Malen zu tun hatte. Er bewunderte jeden Schildermaler, saß vor den Türen der Malschulen herum, um bei Gelegenheit einen Blick hinein tun zu dürfen und malte auch selbst kleine Bildchen, die deutlich von Begabung zeugten.
Bender absolviert eine Lehre als Lithograf in Częstochowa und arbeitet zwischen 1899 und 1905 in Łódź und Sosnowice. Im Anschluss geht er nach München, wo er ein Jahr lang bei den Kunstanstalten Josef Müller arbeitet.
1906 geht er nach Paris und studiert an der renommierten Académie Julian. Seinen Lebensunterhalt verdient er als Zeichner und Lithograf.
1908 heiratet er Jadwiga Freistadt aus Sosnowice. Jadwiga kommt wie er aus einer deutschsprachigen jüdisch-polnischen Familie. Sie interessiert sich für zeitgenössische Literatur und Philosophie und hat 1906/07 für zwei Semester an der Universität Bern studiert.
Am 15. Februar 1909 kommt Tochter Marylka zur Welt.
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Stanislaus Bender beim Zeichnen in der Natur, o.J.
Von 1909 bis 1911 studiert Bender „einem Jugendtraum entsprechend“ an der Akademie der Bildenden Künste in München. Er besucht die Malklasse von Prof. Ludwig Herterich und studiert Radierung bei Prof. Peter Halm.
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Familie Bender in der Isabellastraße 25, vor 1919
1914 kann sich Bender endgültig mit seiner Familie in München niederlassen. Die kleine Familie bezieht eine Wohnung mit Atelier in der Isabellastraße 25 in München-Schwabing.
Am 2. Januar 1919 stirbt Jadwiga Bender, die im fünften Monat schwanger ist, an der Spanischen Grippe. Bender übernimmt die Erziehung von Tochter Marylka.
Nach sechs Jahren am Gymnasium nimmt er Marylka zur Ausbildung in sein Werbeatelier.
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Stanislaus und Marylka im Werbeatelier, München, Ende der 1920er-Jahre
1919 veröffentlicht Bender eine Sammelmappe mit 12 colorierten Drucken im J. Kauffmann Verlag in Frankfurt a.M. Die Mappe mit Motiven aus dem „Schtetl“ ist schnell vergriffen. Es folgen Neuauflagen mit deutschem und englischem Vorwort.
In der Dauerausstellung des Jüdischen Museums München ist das Gemälde „Ghettomädchen“ zu sehen.
Die Detailstudie „Ghettomädchen“ von Stanislaus Bender scheint ein ideales Ausstellungsstück für das Jüdische Museum München zu sein. Das Ölgemälde zeigt ein jüdisches Motiv, der in Lodz geborene Künstler ist jüdisch, und der Großteil der Bildfolge zum jüdischen traditionellen Leben wurde in seinem Atelier in München-Schwabing gemalt.
Diese rasch skizzierten Auswahlkriterien setzen als selbstverständlich voraus, was einer näheren Befragung bedarf. Gehören nur Stanislaus Benders Werke mit jüdischer Thematik in das Museum? Oder auch beispielsweise sein Ölgemälde Odeonsplatz, das keine spezifisch jüdische Thematik hat? Oder sollte der gesamte Nachlass Benders im Jüdischen Museum aufbewahrt werden, da der Künstler jüdisch war? Schließlich stellt sich auch noch die Frage, inwieweit eine Ausstellung ausschließlich jüdischer Motive Stereotypen befördert.
Jüdische Genremalerei beschreibt nur einen Teil von Stanislaus Benders Tätigkeit. In seinem Nachlass verweisen Bilder von bayerischen Landschaften auf den Münchner Maler, hochwertige Werbegrafiken, wie beispielsweise für die Bayerische Zugspitzbahn, lassen den Reklamekünstler hervortreten. Konzept, Idee und Ziel des Jüdischen Museums München ist es, die Vielfalt jüdischen Lebens in München zu zeigen. Der Blick auf die Biografien Münchner Juden ist deshalb immer auch der Versuch, einen Blick auf ihre komplexen Identitäten zu werfen – bei Bender: auf den Künstler, den Sohn polnischer Juden, den Münchner, den Emigranten, den Rückkehrer … –, auf das, was in der modernen Soziologie unter dem Begriff Patchwork-Identität zusammengefasst wird.
Ich zeige in dieser Vitrine dennoch das „Ghettomädchen“, da es eine wichtige Facette der Identität Benders berührt – seine Herkunft, die er mit vielen Münchner Juden Anfang des 20. Jahrhunderts teilte. Bender bringt seine Erinnerungen nach München mit und macht sie zum Thema seiner bedeutendsten Schaffensperiode. Sein Name ist deshalb – wie bei nur wenigen jüdischen Künstlern, darunter Moritz Oppenheim – auch mit der Darstellung von Szenen jüdischen Lebens verknüpft. Das ausgestellte Gemälde gibt Antworten. Und es stellt Fragen, wie die nach der Existenz einer jüdischen Kunst.
Kuratorin Jutta Fleckenstein, 2007
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Stanislaus Bender im Werbeatelier, o.J.
Als Werbegrafiker macht sich Bender deutschlandweit einen Namen. Er entwirft Plakate, Inserate und Produktverpackungen vom Schokoladenpapier bis zur Anzeige für Kühlschränke oder Traktoren.
Um 1920 bemüht sich Bender vergeblich um die deutsche Staatsangehörigkeit. Er und Marylka haben polnische Pässe und gehören damit zu den schätzungsweise 3.000 „Ostjuden“ in München. Damit droht ihnen 1923 die Ausweisung.
Obwohl die Gruppe der „Ostjuden“ nicht einmal 0,5% der Münchner Gesamtbevölkerung ausmacht, gerät sie Anfang der 1920er-Jahre in den Fokus der Politik. Nach der Niederschlagung der Räterepublik ist das Klima aufgeheizt und insbesondere aus dem Osten eingewanderte Jüdinnen und Juden werden als „Bolschevist*innen“ diffamiert. Im Herbst 1923 werden Razzien durchgeführt und 70 „ostjüdische“ Familien erhalten einen Ausweisungsbefehl. Wie viele Personen München daraufhin tatsächlich verlassen, lässt sich heute nicht mehr ermitteln.
Die beiden können bleiben, nachdem sich Firmen aus Benders Kundenkreis für die beiden einsetzen.
1932 feiert Bender seinen 50. Geburtstag.
Er stellt zwei Porträts fertig, die sich heute in der Sammlung des Jüdischen Museums München befinden.
Das Selbstporträt zeigt Stanislaus Bender vor einem geöffneten Fenster in seinem Münchner Atelier. Er trägt einen dunklen Anzug, ein weißes Hemd und Fliege. Seine Körperhaltung scheint entspannt; er lehnt sich gegen die Fensterbank, die linke Hand in die Tasche gesteckt. Sein Gesichtsausdruck ist neutral und sein Blick direkt auf die Betrachtenden gerichtet. In der rechten Hand hält er einen Pinsel, der über den unteren Bildrand hinausragt.
Im Hintergrund, durch das geöffnete Fenster, verschwimmen die mit freien, expressiven Pinselstrichen angedeuteten Dächer und der Himmel miteinander. Die Farbgebung ist von Pastelltönen dominiert mit satteren Lichtreflexen an den Hauswänden und Schornsteinen, was dem Bild eine winterliche oder frühmorgendliche Stimmung verleiht.
Das Porträt von Marylka Bender zeichnet sich durch seine leuchtenden, hellen Farben aus. Die junge Frau sitzt etwas erhöht vor einer sommerlichen Landschaft. Sie trägt ein ärmelloses weißes Kleid und einen leuchtend roten Schal, der über ihren rechten Arm drapiert ist. Ihr Haar ist modisch kurz geschnitten. Ihr Blick ist direkt auf die Betrachtenden gerichtet und ihr Gesichtsausdruck wirkt ernst und aufmerksam. Sie sitzt aufrecht und hat die Hände vor sich auf den Knien übereinandergelegt.
Den größten Teil des Hintergrundes nimmt der Himmel ein, der mit Hellblau- und Weißtönen und sichtbaren expressiven Pinselstrichen ausgeführt wurde. Am unteren Bildrand ist ein goldgelbes Kornfeld angedeutet. Nur am oberen Bildrand sind einige Federwolken zu erkennen. Lichtreflexe auf Marylkas Haar, Schulter und Händen und scharf konturierte Schatten vermitteln den Eindruck von direkter Sonne.
Aus derselben Zeit ist das Porträt einer Person erhalten, die wir heute nicht mehr zuordnen können.
30. Januar: Machtübergabe an die Nationalsozialisten
22. September: Gründung der Reichskulturkammer; Ausschluss jüdischer Künstler*innen aus dem deutschen Kunstbetrieb
15. September: Die Nürnberger Gesetze treten in Kraft
Bender reist nach Paris, um Vorbereitungen für eine Emigration zu treffen. Er kehrt aber zunächst nach München zurück.
November: Stanislaus und Marylka verhandeln mit dem Verlagshaus Reproducta in Wien und planen eine Emigration nach Österreich.
12. März: Einmarsch der Deutschen in Wien
Mit dem Anschluss Österreichs fällt Wien als Auswanderungsziel weg und Paris bleibt die einzige Option.
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Passfotografien Marylka und Stanislaus Bender, 1930er-Jahre
Ab Oktober 1938 leben Vater und Tochter im Pariser Vorort Neuilly-sur-Seine. Sie versuchen wieder im Bereich der Werbegrafik Fuß zu fassen.
25. Juni: Einmarsch der Deutschen in Paris
Stanislaus und Marylka verlassen Paris fluchtartig. Gemeinsam mit einem befreundeten Paar fliehen sie nach Lourdes im Südwesten Frankreichs.
Nach dem Waffenstillstand mit Deutschland und der Teilung Frankreichs wird der unbesetzte Süden Ziel für Millionen von Flüchtlingen.
Lourdes ist während des Zweiten Weltkriegs aufgrund seiner isolierten Lage in den Pyrenäen und der Nähe zu Spanien Ziel für zehntausende Geflüchtete. Bereits 1939 kommen die ersten Flüchtlinge in der Stadt an. Nach dem Einmarsch der Deutschen 1940 steigt ihre Zahl drastisch an.
1941 eröffnet die Stadt zwei Wohnheime, um die Flüchtlinge unterzubringen. Auch die katholische Kirche bietet dringend benötigte Unterstützung. Es gründen sich zudem verschiedene Vereine. Die Geflüchteten aus dem Norden Frankreichs organisieren sich im Comité des Réfugiés du Nord, das auch gelegentliche Kulturprogramme veranstaltet.
Das Vichy-Regime im unbesetzten Teil Frankreichs kollaboriert mit Deutschland und beschließt eine Reihe antisemitischer Gesetze. Jüdinnen und Juden werden aus dem öffentlichen Leben und der Wirtschaft verdrängt. Ab 1942 müssen sie einen gelben Stern zur Kennzeichnung tragen.
Stanislaus und Marylka haben in Lourdes keine Verdienstmöglichkeit und sind auf die Unterstützung Bekannter angewiesen. Sie müssen sich wöchentlich bei der örtlichen Polizei melden.
Juli: Massenverhaftungen und Deporationen im besetzten und unbesetzten Teil Frankreichs
Im Sommer 1942 verschärft sich die Judenverfolgung in Frankreich.
Bereits im März 1942 werden die ersten Jüdinnen und Juden aus Frankreich in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Im Sommer folgt eine Welle an Deportationen. Im unbesetzten Süden sind die französischen Behörden und die dortige Polizei für die Organisation und Durchführung der Verhaftungen verantwortlich. Jüdinnen und Juden aus Lourdes werden in das Sammellager in Gurs gebracht und von dort über Drancy bei Paris nach Auschwitz deportiert.
Die Maßnahme richtet sich vor allem gegen ausländische und staatenlose Jüdinnen und Juden. Sie machen das Gros der rund 76.000 aus Frankreich deportierten Jüdinnen und Juden aus.
Am 12. Juli soll Marylka in das Internierungslager Gurs deportiert werden. Es gelingt Stanislaus mit Unterstützung des Bischofs ihre Freilassung zu erwirken. Sie kann noch aus dem Deportationszug gerettet werden.
Bekannte und die Kirche helfen Stanislaus und Marylka unterzutauchen.
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Ausweis für „Henri Bernier“ alias Stanislaus Bender, ausgestellt durch die Préfecture de Lot-et-Garonne, Dezember 1942
Im Mai 1943 kommen die beiden mit falschen Papieren nach Cuq, einem Dorf im Département Lot-et-Garonne.
Sie leben in einem leerstehenden Bauernhaus ohne Heizmöglichkeit. Die Versorgung mit Lebensmitteln ist schwierig.
25. August: Befreiung von Paris und Rückzug der Deutschen aus Frankreich
Vor der Rückkehr nach Paris macht Bender Halt in Lourdes, wo er zum Dank für die Unterstützung ein Fresco der heiligen Bernadette in der Église du Sacré-Cœur malt.
Als Kinder kannten wir die bemalte Wand in der Kapelle, weil unsere Mütter uns ermutigten, sie anzuschauen. Sie erzählten uns, dass es sich um das Werk eines polnisch-jüdischen Malers handelte, der während des Krieges mit seiner Tochter in Lourdes Zuflucht suchte.
— Freundeskreis Altes Lourdes, 2011
Bender erfährt, dass fast seine gesamte Familie in der Schoa ausgelöscht wurde: Geschwister, Nichten und Neffen starben im Getto Łódź oder wurden von dort in deutsche Vernichtungslager deportiert.
Bei Kriegsende ist Bender 63 Jahre alt. Gesundheitlich stark angeschlagen kehrt er nach Paris zurück.
Tochter Marylka heiratet 1948 ihren Münchner Jugendfreund Christian Kellerer. Die beiden ziehen ebenfalls nach Paris.
Ab den 1950er-Jahren bemüht sich Bender um finanzielle Entschädigung für die Zeit der Verfolgung. Die Antragstellung gestaltet sich langwierig. Er muss den deutschen Behörden zahlreiche Nachweise erbringen.
Rabbiner Dr. Leo Baerwald in New York, der bis 1940 Rabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde in München war, bestätigt:
Aufgrund physischer und psychischer Traumata kann Bender nur noch eingeschränkt als Werbegrafiker arbeiten und ist daher auf die niedrigen Entschädigungszahlungen und eine geringe Rente aus Deutschland angewiesen.
Ende der 1950er-Jahre zieht Stanislaus Bender zurück nach München. Am 21. Januar 1975 stirbt er in einem Seniorenheim in Pullach.
Stanislaus Bender und sein vielseitiges Schaffen als Künstler und Werbegrafiker sind in München vergessen bis Marylka Bender Anfang der 2000er-Jahre als eine der ersten Unterstützer*innen des Jüdischen Museum Münchens ihre Geschichte und die ihres Vaters mit dem Jüdischen Museum München teilt.
Die meisten von Benders Arbeiten sind heute verschollen. Wiederentdeckte Reproduktionen und Fotografien können helfen, Werke wiederzufinden und zuzuordnen.
Zitate:
Marylka Bender, 2000: unveröffentlichte Erinnerungen, JM 15/2004.
Marylka Bender, 2012: Grill, Harald; Maier, Siegfried: „Ich war schrecklich brav, viel zu brav“. Marylka Bender-Kellerer, ein Leben – ein Jahrhundert, München 2012.
Fritz von Ostini, 1919: Bildermappe Stanislaus Bender, Frankfurt a.M., 1919.
Jutta Fleckenstein, 2007: Fleckenstein, Jutta: „Ghettomädchen oder Zugspitzbahn – Was zeigt ein jüdisches Museum?“, in: Fleckenstein, Jutta; Purin, Bernhard: Jüdisches Museum München, München/Berlin/London/New York 2007, S. 64.
Theodor Harburger, 1932: Das jüdische Echo Jg. 19 (26.2.1932) H. 9.
Les Amis du Vieux Lourdes, 2011: Les Amis du Vieux Lourdes, Nr. 176, Oktober 2011.
Stanislaus Bender, 1957; Dr. Leo Baerwald, 1954; Ärztliches Gutachten, 1954 : Entschädigungsakt, Bayerisches Hauptstaatsarchiv, LEA 5859.